Tagungsbericht vom Forum Kartellrecht 2014 in Münster:

Nicht-kontrollierende Minderheitsbeteiligungen – Reform der Europäischen Fusionskontrollverordnung?

Der folgende Tagungsbericht ist auch in der Neuen Zeitung für Kartellrecht (NZKart 2014, 136) erschienen.

Am 16. Januar 2014 veranstaltete das Institut für Internationales Wirtschaftsrecht gemeinsam mit dem Institut für Genossenschaftswesen unter der Leitung von Prof. Dr. Petra Pohlmann und Prof. Dr. Theresia Theurl zum 14. Mal das Forum Kartellrecht. Den Schwerpunkt der interdisziplinären Veranstaltung bildeten die Überlegungen der EU-Kommission, den Anwendungsbereich der europäischen Fusions­kontrolle auf den Erwerb von nicht-kontrollierenden Minderheitsbeteiligungen auszuweiten1. Die Referenten analysierten die bestehenden deutschen und europäischen Regelungen und das im Juni 2013 veröffentlichte Konsultationspapier der Europäischen Kommission aus rechtlicher und ökonomischer Perspektive. Zahlreiche Juristen und Ökonomen aus Wissenschaft, Praxis und Studium verfolgten die Vorträge der Referenten (vgl. I.-III.) und die anschließende Podiumsdiskussion (vgl. IV).

I. Die ökonomische Analyse der Minderheitsbeteiligungen

Prof. Kai-Uwe Kühn, PhD (University of Michigan, Düsseldorf Institute for Competition Economics und CERP) sprach sich dafür aus, die FKVO zu ändern und auf Minderheitsbeteiligungen anzuwenden. Der Kontrollbegriff des Art. 3 FKVO sei aus ökonomischer Perspektive zu eng. Die Kontrolle solle sich allerdings auf Minderheitsbeteiligungen über 30% beschränken. Im Fokus der Kontrolle sollten horizontale Minderheitsbeteiligungen stehen, die auf Kontrollrechte und unilaterale Effekte zu untersuchen seien.
Kühn wies darauf hin, dass bei der wettbewerblichen Beurteilung nicht-kontrollierender Minderheitsbeteiligungen differenziert werden müsse, ob die Beteiligungen gewisse Kontrollrechte beinhalten oder rein finanziell seien. Ein Unternehmen könne die strategischen Entscheidungen des anderen Unternehmens im Sinne seiner eigenen Geschäftspolitik beeinflussen, wenn es eine Minderheitsbeteiligung mit einer Kontrollmöglichkeit im ökonomischen Sinne halte. Das Unternehmen könne seine Einflussmöglichkeiten missbrauchen, um die Wettbewerbsfähigkeit seines Wettbewerbers signifikant zu mindern und ihn im Extremfall vom Markt zu verdrängen. Diese Beteiligungen seien für den Wettbewerb viel gefährlicher als reine Finanzbeteiligungen. Für die Analyse solcher Konstellationen empfahl Kühn eine qualitative Betrachtung.
Reine Finanzbeteiligungen beeinflussten dagegen nur die Preissetzung des beteiligten Unternehmens. Sie minderten die Verluste, falls das beteiligte Unternehmen seine Preise erhöht und seine Nachfrager zu dem Wettbewerber abwandern, an dem das Unternehmen eine Beteiligung hält. Ihrer Natur nach bestünden die gleichen, lediglich geminderten Anreizeffekte zur Preiserhöhung wie bei einer Fusion. Um die Effekte zu beurteilen, könne die Praxis auf die Instrumente aus der Fusionskontrolle – wie den HHI-Index oder den UPP-Test – zurückgreifen. Die Kommission habe diese Instrumente in angepasster Form bereits erfolgreich auf Minderheitsbeteiligungen angewendet, um die Auflagen für eine Fusion zu bestimmen. Allerdings ließen sich viele empirische Instrumente aus der Fusionskontrolle nicht anpassen, des Weiteren seien die qualitativen Informationen noch schwerer zu verwerten. Auch der Nachweis von koordinierten und vertikalen Effekten sei sehr schwer zu führen.

II. Minderheitsbeteiligungen im deutschen und europäischen Wettbewerbsrecht

Prof. Dr. Dr. Dres. h. c. Franz Jürgen Säcker (Freie Universität Berlin) wies zunächst darauf hin, dass strategische Minderheitsbeteiligungen, die über reine Finanzbeteiligungen hinausgehen, nach deutschem Recht, im Gegensatz zum EU-Recht2, der Fusionskontrolle unterliegen, soweit die Voraussetzungen des § 37 Abs. 1 Nr. 4 GWB erfüllt sind. Nach deutschem Recht bestehe insoweit keine Schutzlücke. Eine wirtschaftliche Einheit der Unternehmen i. S. v. § 36 Abs. 2 S. 1 GWB sei jedoch nicht per se aufgrund einer wettbewerbsrelevanten strategischen Minderheitsbeteiligung anzunehmen. Dafür müsse vielmehr die konkrete gesellschaftsrechtliche Einflussnahmemöglichkeit erwarten lassen, dass wirksamer Wettbewerb signifikant behindert werde. § 36 Abs. 2 GWB setze aber nicht voraus, dass die beiden Unternehmen unter eine gemeinsame konzernmäßige Leitung zusammengefasst seien.
Anschließend führte Säcker aus, dass Bedarf bestehe, Minderheitsbeteiligungen zu kontrollieren. Minderheitsbeteiligungen an Wettbewerbern könnten insbesondere bei marktbeherrschender Stellung des sich beteiligenden Unternehmens den Wettbewerb dämpfen. Vertikale Beteiligungen würden zur Abschottung der Beschaffungs- oder Absatzmärkte für aktuelle und potentielle Wettbewerber beitragen. Nur ausnahmsweise könnten konglomerate Minderheitsbeteiligungen antikompetitiv wirken. Das sei der Fall, wenn sich ein marktbeherrschendes Unternehmen an Unternehmen auf sachlich benachbarten Märkten beteilige, um diesen den Zutritt zu eigenen Märkten zu erschweren und damit seine Position auf diesen Märkten abzusichern. Zudem ließen sich konglomerate Fälle mangels bilateraler Einigungen zwischen Wettbewerbern nicht mit Art. 101 AEUV, § 1 GWB erfassen.
Angesichts der bestehenden Schutzlücken bei der Anwendung von Art. 101 AEUV, § 1 GWB sprächen gute Gründe dafür, wettbewerbsrelevante strategische Minderheitsbeteiligungen der EU-Fusionskontrolle zu unterwerfen. Das Kartellverbot greife bei horizontalen Beteiligungen ein, soweit koordinierte, bilaterale Effekte i. S. v. Art. 101 AEUV nachweisbar seien. § 1 GWB bleibe auf wettbewerbsrelevante horizontale und vertikale Minderheitsbeteiligungen anwendbar, selbst wenn das Bundeskartellamt den Zusammenschluss nicht nach § 36 Abs. 1 GWB untersagt. Eine spürbare Wettbewerbsbeschränkung i. S. v. Art. 101 AEUV und § 1 GWB könne vorliegen, selbst wenn die Beteiligung den Wettbewerb nicht signifikant behindert. Art. 101 AEUV und § 1 GWB seien einschlägig, wenn der nach § 37 Abs. 1 Nr. 4 GWB festgestellte wettbewerbsrelevante Einfluss eine konzertierte Abstimmung des Verhaltens der beteiligten Unternehmen bewirke. Eine horizontale oder vertikale strategische Minderheitsbeteiligung stelle eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung i. S. v. Art. 101 AEUV, § 1 GWB dar, wenn ein Unternehmen sie in Absprache mit dem Beteiligungsunternehmen „missbrauchsgezielt“ als Kartell-Surrogat einsetze. Die Wettbewerbsbeschränkung sei hingegen bewirkt, wenn das Unternehmen die Minderheitsbeteiligung (z.B. Einspruchsrechte, Aufsichtsrats- oder Vorstandsmandate) lediglich nutze, um wettbewerbsrelevante Informations- und Mitgestaltungsrechte zu erlangen. Auf einen „nackten“ Erwerb einer Minderheitsbeteiligung über die Börse ohne verstärkende gesellschafts- oder schuldvertragliche Absprachen sei das Kartellverbot auch bei negativen unilateralen Effekten nicht anwendbar.

III. Minderheitsbeteiligungen aus der Perspektive des Bundeskartellamtes

Dr. Andreas Bardong, LL. M. (Bundeskartellamt) hielt eine wettbewerbsrechtliche Kontrolle von nicht-kontrollierenden Minderheitsbeteiligungen aufgrund der bereits dargestellten wettbewerbsrechtlichen Probleme ebenfalls für notwendig. Die langjährige deutsche Entscheidungspraxis bestätige dies. Die Fälle „wettbewerblich erheblichen Einflusses“ i. S. v. § 37 Abs. 1 Nr. 4 GWB würden zwar weniger als 1% der Anmeldungen beim Bundeskartellamt, aber mehr als 10% der Untersagungen ausmachen.
Es sei aber nicht erforderlich, die europäischen Fusionskontrollvorschriften auszuweiten. Das würde die Mehrfachnotifizierungen allenfalls in geringem Umfang verringern. Angesichts des „Pre-notification“-Verfahrens und der höheren ­Informationsanforderungen auf EU-Ebene sei zudem zweifelhaft, ob eine Anmeldung bei der Kommission die Unternehmen entlasten würde. Außerdem zeige das „Commission Staff Working Document“ nicht auf, ob zusätzliche wettbewerblich problematische Fälle abgedeckt würden, die die nationalen Kontrollregime bisher nicht erfassen. So habe eine Durchsicht der Entscheidungen des Bundeskartellamts gezeigt, dass die Behörde nur in zwei Fällen grenzüberschreitende, negative Wirkungen nicht beseitigen konnte.
Anschließend ging Bardong der Frage nach, welches Verfahren für eine europäische Kontrolle nicht-kontrollierender Minderheitsbeteiligungen empfehlenswert wäre. Das Selbsteinschätzungs- und das Transparenzsystem, die die Kommission vorschlägt, seien inakzeptabel, da sie einen erheblichen Rückschritt gegenüber der nationalen Kontrolle darstellten. Zudem regte er an, auf EU-Ebene über mögliche Verfahrensvereinfachungen bei nicht-kontrollierenden Minderheitsbeteiligungen nachzudenken.
Mit Blick auf den Zusammenschlussbegriff gebe es einen Zielkonflikt: entweder grenze man die zu kontrollierenden Fälle einfach anhand von Schwellenwerten ab oder man bestimme die problematischen Fälle anhand einer materiellen Bewertung. Mit Letzterer hätten sowohl das Bundeskartellamt als auch die britischen Wettbewerbsbehörden gute Erfahrungen gemacht. Zudem könne die Kommission anhand der nationalen Praxis typische Anwendungsfälle konkretisieren. Bardong wies außerdem darauf hin, dass in Fällen, in denen die Unternehmen die EU-Regelung umgehen würden oder sie sonst nicht eingreife, die nationalen Kontrollregime Anwendung finden könnten. In dieser Legislaturperiode sei zwar nicht mehr mit einem Gesetzesentwurf der Kommission zur Kontrolle nicht-kontrollierender Minderheitsbeteiligungen zu rechnen. Die eingereichten Stellungnahmen ließen jedoch erwarten, dass sie ihre Vorschläge weiterverfolgen werde.

IV. Diskussion: Prüfung nicht-kontrollierender Minderheitsbeteiligungen aus ökonomischer und juristischer Sicht

Prof. Dr. Christian Wey (Heinrich-Heine Universität Düsseldorf, Düsseldorf Institute for Competition Economics) eröffnete die Diskussion darüber, ob die FKVO die nicht-kontrollierenden Minderheitsbeteiligungen erfassen sollte. Wie Kühn (vgl. I.) wies er darauf hin, dass aus ökonomischer Perspektive besondere Gefahren für den Wettbewerb von Minderheitsbeteiligungen mit Kontrollmöglichkeiten ausgingen. Das gelte sowohl auf horizontaler als auch auf vertikaler Ebene. Bei Beteiligungen ohne Kontrollmöglichkeiten betonte Wey ebenfalls die Gefahr der unilateralen Effekte. Anders als bei einer Fusion entstünden jedoch keine Synergieeffekte, die diese kompensieren könnten. Außerdem könne ein Unternehmen mit Hilfe einer Minderheitsbeteiligung eine spätere Fusion erschleichen, indem es die Beteiligung zu Preiserhöhungsentscheidungen des anderen Unternehmens missbrauche. Bei einer späteren Fusionskontrolle könne das Unternehmen in Aussicht stellen, dass die Fusion den Marktpreis verringern werde, um die Fusionsfreigabe zu erhalten. Minderheitsbeteiligungen könnten allenfalls volkswirtschaftlich sinnvoll sein, damit sich Unternehmen besser über potentielle Fusionspartner informieren können. Angesichts der überwiegenden Risiken für den Wettbewerb sei jedoch eine generelle Beaufsichtigung von Minderheitsbeteiligungen geboten.
Im Anschluss betrachtete Mette Alfter (Frontier Economics) die möglichen Änderungen der FKVO aus der Perspektive der ökonomischen Beratungspraxis. Sie erläuterte, dass die Höhe einer Minderheitsbeteiligung nicht geeignet sei, um wettbewerbsschädliche Beteiligungen zu ermitteln. Auf horizontaler Ebene seien die Einflussmöglichkeiten des beteiligten Unternehmens auf den betroffenen Wettbewerber entscheidend. Alfters Modelluntersuchung zeige, dass Beteiligungen ohne Einflussmöglichkeit erst ab einer Höhe von 40% zu einer erheblichen Preiserhöhung auf dem Markt führen. Dagegen würden die Preise bei Beteiligungen mit Einflussmöglichkeiten trotz geringer Anteilshöhe erheblich steigen. Eine eventuelle Änderung des Kontrollbegriffs müsse diesem wirtschaftlichen Zusammenhang Rechnung tragen. Dafür müsse man insbesondere das jeweilige nationale Gesellschaftsrecht betrachten, da hiervon die dem Anteileigner zustehenden Einflussmöglichkeiten abhingen. Die Einflussmöglichkeiten würden in einzelnen Mitgliedsstaaten der EU sehr unterschiedlich ausfallen. Daher sollten die Juristen und Ökonomen den neuen Kontrollbegriff in einer Kooperation erarbeiten.
Dr. Tilman Kuhn LL. M. (Cleary Gottlieb Steen & Hamilton LLP) stellte zunächst die Existenz eines „serious enforcement gap“ in der EU-Fusionskontrolle hinsichtlich nicht-kontrollierender Minderheitsbeteiligungen in Frage. Die Anzahl der problematischen Fälle sei gering und rechtfertige nicht eine Erweiterung der FKVO. Die Kontrolle durch Art. 101, 102 AEUV bzw. §§ 1, 19 ff. GWB sei bereits ausreichend. Die deutsche Fusionskontrollpraxis könne keine Rechtfertigungsgrundlage für eine Ausweitung der FKVO bilden. Die einschlägigen Fälle kämen überwiegend aus Energie- und Pressemärkten. Diese seien im Regelfall lokal und ohne grenzüberschreitende Wirkung.
Kuhn kritisierte die im Konsultationspapier erläuterten „theories of harm“. Die Profitabilität einer Preiserhöhung bei einer finanziellen Beteiligung an einem Wettbewerber lasse sich im Voraus kaum bestimmen. Die Annahme, dass der Erwerber aufgrund einer Beteiligung die Entscheidungen des Zielunternehmens beeinflussen könne, betreffe zudem ein prognostiziertes Verhalten der Unternehmen. Für fusionsrechtliche Prognoseentscheidungen stelle der EuGH jedoch hohe Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit.
Außerdem bestehe kein EU-weiter Konsens über den Zusammenschlusstatbestand für nicht-kontrollierende Minderheitsbeteiligungen. Die Schwelle des § 37 Abs. 1 Nr. 3 b GWB sei an das deutsche Gesellschaftsrecht angelehnt und daher auf die EU-Ebene nicht übertragbar. Ein Zusammenschlusstatbestand, der einen „materiellen“ oder „wettbewerblich erheblichen Einfluss“ voraussetzt, würde zu erheblicher Rechtsunsicherheit in der Praxis führen. Die Unternehmen müssten ihre Vorhaben stets vorsorglich bei der Kartellbehörde anmelden. Angesichts dessen sei ein „Notification System“ zur Erfassung von Minderheitsbeteiligungen nicht gerechtfertigt. Im Falle einer Erweiterung der FKVO stelle sich zudem die Frage, in welchem Verhältnis sie zu Art. 101, 102 AEUV stehe. Schließlich sei zu bedenken, dass der EU eine Vorbildfunktion zukomme. Im Falle einer Änderung der FKVO sei zu erwarten, dass andere Jurisdiktionen über die EU hinaus nachziehen werden. Außerdem würde eine Ausweitung der Fusionskontrolle den Arbeitsumfang der Kommission erhöhen. Das sei angesichts der bereits bestehenden Arbeitslast und der Verfahrensdauer im Wettbewerbsrecht aus praktischer Sicht kaum wünschenswert.

Eugen Wingerter und Thomas Wismann, Münster*


* Eugen Wingerter und Thomas Wismann sind Wissenschaftliche Mitarbeiter am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Wirtschaftsrecht und Zivilverfahrensrecht bei Frau Prof. Dr. Petra Pohlmann an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

1 Commission Staff Working Document „Towards more effective EU merger control“, 25. Juni 2013, SWD(2013) 239 final, online abrufbar unter http://ec.europa.eu/competition/consultations/2013_merger_control/ merger_control_en.pdf.

2 Vgl. Ryanair/Aer Lingus, EuGH, 6.f7.2010, Slg. 2010, II-3691.