Am 11. Oktober 2025 verstarb unser emeritierter Kollege Eberhard Struensee, Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht, im Alter von 85 Jahren. Versucht man im Rückblick, seinen Lebensweg anhand einiger Orte und Daten sowie persönlicher Berichte griffig zusammenzufassen, ergibt sich sehr schnell ein wesentlicher Gesamteindruck: Die Begegnung mit Struensee führt zu einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, wie sie einem ganz selten begegnet. Zeiten und Welten prallen aufeinander, und man spürt, wie sich nicht nur die Universität in wenigen Jahrzehnten komplett verändert hat. Das Schriftenverzeichnis, das Struensee 1979 zusammen mit seinem Lebenslauf bei seiner Ernennung in Münster zur Personalakte reichte, umfasst ganze vier Nummern, davon nur zwei veröffentlichte Schriften: eine Dissertation über Unterlassungsdelikte mit knapp 90 Textseiten und ein Aufsatz in der Juristenzeitung ebenfalls über Unterlassungsdelikte mit fünfeinhalb Seiten. Gleich in der ersten Fußnote taucht dort Karl Binding mit seinem Buch über Normen von 1914 auf. Binding nannte das fahrlässige Unterlassungsdelikt „das Kleinste der Kleinen“, und genau mit diesem Zitat begann Struensee seinen JZ-Beitrag von 1977. Er war 37 Jahre alt, als er seinen ersten Aufsatz veröffentlichte. Hier ging es nicht um Selbstdarstellung und Marktgeschrei. Vielmehr spricht ein ganz bescheidener Autor mit leiser Stimme. Ihm genügt es, wenn er als Ergebnis „präzisere Fragestellungen und genaueren Überblick über die Konsequenzen der zu treffenden Wertentscheidungen“ festhalten kann. Ob es einen Zusammenhang gibt zwischen der Persönlichkeit und dem Schreibstil? Unwillkürlich denkt man an die Biographie des Verfassers.

Struensee wurde im Juni 1940 in Königsberg in Ostpreußen geboren. Der Vater fiel als Soldat im Weltkrieg. Der Mutter gelang es, in der Zeit des Zusammenbruchs und der Flucht vier Plätze auf der „Wilhelm Gustloff“ zu organisieren. Wegen Überfüllung des Schiffes schaffte sie es mit ihren zwei Töchtern und dem Sohn aber nicht, an Bord zu kommen. Dieser Fügung verdankt die Familie das Überleben. Die Wirren führten nach Eversdorf bei Salzwedel. Hier begann Struensee seine Schulzeit bis zur Oberschule in Salzwedel. Das Abitur durfte er in der DDR jedoch nicht ablegen. An der Schule hatte es russenfeindliche Äußerungen gegeben, aber die Schüler weigerten sich, den Urheber zu denunzieren. Daraufhin schloss man die gesamte Oberprima vom Abitur aus. Da Struensee unbedingt studieren wollte, ging der 17-jährige in den Westen, damals vor dem Mauerbau noch über Berlin. Die Mutter und die Schwestern blieben in der DDR. Am städtischen Gymnasium in Siegen holte er im März 1958 sein Abitur nach und begann dann im April sein Studium der Rechtswissenschaft in Bonn. Schon im Sommer 1962 absolvierte er in Köln das erste Staatsexamen. Danach ließ sich Struensee mehr Zeit. Die zweite Staatsprüfung folgte in Düsseldorf im März 1968, die Promotion im Juli 1970 in Bonn kurz vor seiner Heirat mit Eva, geb. Dlugaiczyk. Lange Jahre strichen ins Land bis zur Habilitation im Sommer 1978 in Bonn mit der ungedruckten Habilitationsschrift zum strafprozessualen Wiederholungsverbot bei der Konkurrenz von Straftaten. Struensee unterbrach übrigens für mehrere Semester sein Referendariat und arbeitete in dieser Zeit als wissenschaftliche Hilfskraft bei Hans Welzel am rechtsphilosophischen Seminar, danach bei dem Welzel-Schüler und späteren Doktorvater Armin Kaufmann. Hier wurde er zum strafrechtlichen Finalisten und kam schrittweise vorwärts von einer wissenschaftlichen Hilfskraft zu einem sog. Verwalter der Dienstgeschäfte eines Wissenschaftlichen Assistenten bis zum Wissenschaftlichen Assistenten. Seit Herbst 1966 gab er Arbeitsgemeinschaften im Allgemeinen und Besonderen Teil des Strafrechts.

An die Habilitation schloss sich eine Lehrstuhlvertretung in Augsburg im Wintersemester 1978/79 an. In Münster erhielt Struensee zum 16. Oktober 1979 die Ernennung als „Wissenschaftlicher Rat und Professor“. Die Dienstbezeichnung wirkt genauso altertümlich wie eine Bescheinigung vom Januar 1980, die sich in der Personalakte findet. Der damalige Dekan Bernert erklärte gegenüber dem Fernmeldeamt Münster, dass Professor Struensee „aus dienstlichen Gründen dringend telefonisch erreichbar sein muss“. Auch ein Schreiben des Justizministeriums in Düsseldorf von Anfang 1981 führt in eine fremde Welt. Struensee erhielt mit sofortiger Wirkung seine Ernennung als Mitglied in einem Beirat für die einstufige Juristenausbildung. Im Wintersemester 1983/84 genehmigte das Ministerium Struensee erstmals und „ausnahmsweise“ ein Freisemester, um sich seinen „im Landesinteresse liegenden wissenschaftlichen Arbeiten“ widmen zu können. Struensee hatte seinen Antrag insbesondere damit begründet, dass bei seiner C 3-Stelle eine „Entlastung durch Hilfskräfte bei Erledigung mehr technischer Vorgänge (…) bekanntlich nicht vorgesehen“ sei. Das Ergebnis der Lehrbefreiung war ein JZ-Aufsatz von 1984 zur mehrfachen Zivildienstverweigerung mit ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu Wehrdienstverweigerung, Fahnenflucht und Dienstflucht. Der möglicherweise naheliegende zeitgeschichtliche Hintergrund einer radikalisierten Friedensbewegung bleibt unausgesprochen, obwohl im Text immanente Schranken der Gewissensfreiheit auftauchen, verbunden mit dem Hinweis auf Anarchie und Chaos. In den Fußnoten finden sich wie oftmals Welzel und andere Finalisten und an einer Stelle auch ein heute aktuell anmutender Querbezug zur Strafbarkeit von Impfgegnern.

1984 wurde Struensee im Nebenamt zum Richter am Landgericht Münster berufen (seit 1993 Vorsitzender Richter). Im selben Jahr erhielt er die Genehmigung, Rechtsgutachten zu verfassen. Tatsächlich hatte er bereits in der Bonner Zeit an Gutachten zum Contergan-Skandal mitgearbeitet. In der Lehre deckte Struensee bis zu seiner Emeritierung 2005 den strafrechtlichen Pflichtfachbereich ab, unterrichtete aber ebenfalls in methodischen Veranstaltungen zur Fallbearbeitung und im Klausurenkurs zur Examensvorbereitung. Enge persönliche und wissenschaftliche Verbindungen führten ihn oft nach Südamerika.

Das wissenschaftliche Oevre Struensees ist schmal geblieben. Eine kleine Aufsatzsammlung „Grundlagenprobleme des Strafrechts“, erschienen zur Emeritierung 2005, enthält acht Beiträge. Das Geleitwort von Günter Stratenwerth, wie Struensee ein Welzel-Schüler, lässt dennoch aufhorchen. Es geht um „Familienstolz“ auf einen Kollegen, der Fahrlässigkeitsdelikte auf dem Boden der finalen Handlungslehre lösen konnte, was „nie zuvor vollständig gelungen“ sei. Und im Klappentext heißt es, Struensee habe Probleme nicht nur ansatzweise, sondern bis in alle Konsequenzen durchdacht und biete damit Stoff zum Nachdenken, Lesegenuss in sprachlicher Brillanz auch für strafrechtliche Nicht-Finalisten. Das ist vielleicht gar nicht so wenig.

 

Peter Oestmann, Dekan