Jonas Stephan: Der Niederrheinisch-Westfälische Reichskreis am Beginn des Spanischen Erbfolgekrieges (1701 – 1703)

Im Vergleich zum Kaiserhof, dem Reichstag und den Reichsgerichten dürften seine zehn Kreise weniger bekannte Institutionen des Alten Reiches darstellen. Die Kreise, in die das Reich seit dem frühen 16. Jahrhundert eingeteilt war, überwachten den Landfrieden, stellten Truppen an die Reichsarmee, führten die Aufsicht über das Münzwesen und vollstreckten die reichskammergerichtlichen Urteile. Der Begriff ist missverständlich, denn die „Reichskreise“ waren keine Verwaltungsbezirke im eigentlichen Sinn, sondern regionale Vereinigungen von Reichsständen, die jene Aufgaben kollektiv wahrnahmen. Vergleicht man die langfristige Entwicklung der Einzelkreise, zeigt sich ein auffälliges Nord-Süd-Gefälle. Die Kreise im Norden stellten um 1700 ihre Aktivität weitgehend ein, während die südlichen Kreisverbände Schritt für Schritt neue Kooperationsfelder erschlossen. Die Forschung ist sich seit langer Zeit einig, warum es zu dieser Entwicklung kam. Im Norden verfiel das Kreiswesen, weil dort große, machtpolitisch ambitionierte Territorien wie etwa Brandenburg-Preußen, Braunschweig-Hannover oder das Fürstbistum Münster entstanden waren. Demgegenüber blieb der Süden territorial zersplittert und politisch kleinräumig. Die unzähligen Fürsten, Grafen, Herren, Prälaten und Städte der Region nutzten die Kreisordnung, um angesichts wachsender Anforderungen ihre Kräfte zu bündeln. Hier, in den süddeutschen Kreisen, hat die Forschung in den letzten Jahrzehnten viele fruchtbare Details ausleuchten können. Allerdings ist darüber die verhängnisvolle Entwicklung der meisten anderen Kreise aus dem Blick geraten. Insbesondere ist noch völlig unklar, inwiefern die institutionelle Ordnung des Kreiswesens selbst zu seinem eigenen Zusammenbruch beigetragen hat.

Dieser Frage möchte ich in meiner Arbeit am Beispiel des Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreises am Beginn des Spanischen Erbfolgekrieges (1701 – 1703) nachgehen. Wie die Reichsverfassung ruhte die Kreisordnung auf vier Säulen: dem Reichs- und Kreisrecht und der gelehrten Publizistik, der symbolischen Inszenierung sowie den konkreten politischen Verfahren. Meine Schwerpunkte liegen auf dem Recht sowie auf den Verfahren. „Kreisverfassungsrecht“ war überwiegend Gewohnheitsrecht. Inwiefern macht das die Kreisordnung konfliktanfällig oder flexibel handhabbar? Die Verfahren in Kreisangelegenheiten orientierten sich ziemlich nah an denen des Reichstags, wobei es im Einzelnen wichtige Unterschiede gab. Auch der Kreistag war klar hierarchisiert. Den größten institutionellen Einfluss besaßen die drei ausschreibenden Fürsten, die dieses Amt erblich innehatten: Münster, Brandenburg-Preußen und Kurpfalz (Neuburg). Bisher existiert keine kritische Quellenkunde der Überlieferung in Kreissachen. Dabei ist es trügerisch, Verfahren allein über die leicht zugänglichen Beratungsprotokolle zu interpretieren. Sie bilden lediglich die Vorderbühne der Verhandlungen „in pleno“ ab, weder sind alle förmlichen Ereignisse erfasst, z.B. die Visiten und Auffahrten, noch sind alle Verhandlungen zwischen den Ständen dokumentiert. Darüber verraten die Berichte der Gesandten in der Regel deutlich mehr. Die Hinterbühne der politischen Verhandlungen wird hier aber auch nicht immer ausgeleuchtet. Spuren informeller Kommunikation, etwa Gespräche inter pocula („zwischen den Bechern“) sind rar und werden von den Quellenmassen verdeckt.