Münsteraner Gespräche, Mai 2017

Störfallrecht: Die Umsetzung der Seveso-III-Richtlinie in deutsches Recht

– Münsteraner Gespräche zum Umwelt- und Planungsrecht –

Dr. Alexander Milstein

Das deutsche Störfallrecht wurde durch die Umsetzung der Richtlinie 2012/18/EU zur Beherrschung der Gefahren schwerer Unfälle mit gefährlichen Stoffen, der sogenannten Seveso-III-Richtlinie, tiefgreifenden Änderungen unterzogen. Die neuen Regelungen zur Einstufung gefährlicher Stoffe, Anforderungen an die behördliche Überwachung von Betriebsbereichen sowie Vorgaben über die Information und Beteiligung der betroffenen Öffentlichkeit und deren Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten fügen sich nicht nahtlos in die gewachsenen Strukturen des nationalen Rechts ein, sondern führen zumindest stellenweise zu Friktionen, die eine Vielzahl von Problemen in der praktischen Rechtsanwendung hervorrufen. Die am 9. Mai 2017 vom Institut für Umwelt- und Planungsrecht sowie dem Zentralinstitut für Raumplanung an der Universität Münster veranstalteten Münsteraner Gespräche zum Umwelt und Planungsrecht hatten es sich daher zur Aufgabe gemacht, diese Fragestellung inter- und intradisziplinär aufzugreifen und einen Austausch zwischen Experten und Fachöffentlichkeit zu bewirken. Unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. Dr. Sabine Schlacke und Prof. Dr. Hans D. Jarass, LL.M. setzen sich daher die rund 60 Teilnehmer intensiv damit auseinander, wie sich die unionsrechtlich geprägten Novellierungen in die überkommene Dogmatik des nationalen Rechts integrieren lassen.

Industrieanlagen und Störfälle – Herausforderungen aus Sicht einer Vollzugsbehörde

Einen Einblick in die Mannigfaltigkeit der Probleme, die der Vollzug des neuen Regelwerks in der Praxis hervorruft, vermittelte Dr. Christel Wies, Leiterin der Abteilung Umwelt und Arbeitsschutz der Bezirksregierung Münster. Die Immissionsschutzdezernate der Bezirksregierungen seien sowohl für die Anlagensicherheit im Genehmigungsverfahren als auch in der Überwachung zuständig, während die Katastrophenschutzplanung bei den Katastrophenschutzämtern der Kreise sowie kreisfreien Städte und die Gewährleistung der Sicherheitsabstände bei den Bauplanungsämtern, gegebenenfalls bei der Genehmigungsbehörde Bau oder Immissionsschutz angesiedelt seien.

Sodann beleuchtete Wies die grundlegenden Änderungen im Zuge der Seveso-III-Umsetzung für den Vollzug. Aus ihrer Sicht stellen zunächst die neuen Gesetzesbegriffe des Störfallrechts eine wesentliche Neuerung dar. Daran schließe sich die Frage an, welche Auswirkungen die neuen Vorgaben auf die nach altem Recht ermittelten Abstände nach sich zögen. Im Verfahrensrecht sei zunächst die verstärkte Öffentlichkeitsbeteiligung im Genehmigungsverfahren zu nennen. Eine dogmatische Besonderheit stelle hierbei das störfallrechtliche Genehmigungsverfahren für nicht genehmigungsbedürftige Anlagen (§ 23b BImSchG) dar. Auch die neu in § 8a StörfallV verankerte Grundpflicht der Information der Öffentlichkeit werfe Klärungsbedarf auch. Die Erörterung des normativen Rahmens bereitete den Boden für Beispiele aus der Praxis zur Wahrung angemessener Abstände. Anhand vierer Fälle – der vorsorgenden Planung für einen Chempark, der Ermittlung eines angemessenen Abstands zwischen einer Flüchtlingsunterkunft und einem Betriebsbereich auf einem Kraftwerksgelände, der Umsiedelung eines Gefahrstofflagers und der Verlagerung eines Flüssiggaslagers – illustrierte die Referentin die Herausforderungen, die das novellierte Störfallrecht für die Vollzugsbehörden bereithält.

Die Umsetzung der Seveso-III-Richtlinie in deutsches Recht

An die Ausführungen aus der Vollzugspraxis konnte nun Ministerialrätin Dr. Susan Krohn, Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit, ihren Vortrag zu dem Umsetzungsverfahren der Seveso-III-Richtlinie anschließen. Als zentralen Konflikt, der auch zu dem Überschreiten der Umsetzungsfrist geführt habe, identifizierte sie die Öffentlichkeitsbeteiligung für bestimmte Zulassungsentscheidungen nach Art. 15 in Verbindung mit Art. 13 Seveso-III-Richtlinie. Das Gesetzgebungsverfahren sei dadurch erschwert worden, dass im Koalitionsvertrag als politisches Gebot eine „Eins zu Eins“-Umsetzung vereinbart worden sei. Daher habe man sich für ein Umsetzungskonzept im BImSchG entschieden, wonach eine Öffentlichkeitsbeteiligung nicht nur bei genehmigungsbedürftigen Anlagen, sondern auch bei nichtgenehmigungsbedürftigen Anlagen erforderlich sein kann. Die Referentin zeigte auf, dass diese Einführung eines „kleinen störfallrechtlichen Genehmigungsverfahrens“ nach § 23b BImSchG die herkömmliche Dichotomie von genehmigungsbedürftigen und nicht-genehmigungsbedürftigen Anlangen relativiere. Dies sei das Ergebnis eines politischen Kompromisses, da der „dogmatisch saubere Weg“ durch Erweiterung der 4. BImSchV und Änderung des Baugenehmigungsverfahrens nicht durchsetzbar gewesen sei.

Im Folgenden beschäftigte sich die Referentin mit dem Abstandsgebot nach Art. 13 Seveso-III-Richtlinie dem Grund der kritikwürdigen Umsetzungsgesetzgebung. Das seit der Seveso-II-Richtlinie von 1996 geltende und durch die Seveso-III-Richtlinie lediglich fortgeführte Rechtsinstitut sei grundsätzlich durch den „planerischen Störfallschutz“ in § 50 BImSchG in das deutsche Recht umgesetzt worden. Dieses Trennungsgebot wirke als Abwägungsdirektive für raumbedeutsame Planungen und Maßnahmen. Diese Vorschrift sehe jedoch keine Regelung für den Fall vor, dass das unionsrechtliche Abstandsgebot auf Planungsebene nicht angemessen berücksichtigt wurde. Ausweislich der sogenannten Mücksch-Entscheidungen von Europäischem Gerichtshof (Urteil vom 15. September 2011, Rs. C-53/10) und Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 20. Dezember 2012, Az. 4 C 11.11) sei das Abstandsgebot in diesem Fall auf der nachgelagerten Ebene der (Zulassungs-)Entscheidung abzuarbeiten, selbst wenn es sich dabei um eine gebundene Entscheidung handelt. Im Referentenentwurf zur Änderung des BImSchG sei deswegen vorgesehen gewesen, die Rechtsprechung in § 50 BImSchG zu kodifizieren. Im weiteren Prozess des Gesetzgebungsverfahrens habe sich dann jedoch der Zielkonflikt zwischen den beiden Raumnutzungsinteressen Wirtschaft und Wohnen ausgewirkt. Diese rechtspolitische Belastung sei zudem auf dogmatische Fragestellungen getroffen. Daher sei letztlich auf eine Kodifizierung der Rechtsprechung verzichtet worden.

Diskussion

In dem anschließenden Meinungsaustausch manifestierte sich die Vielzahl rechtlicher Fragestellungen, die durch die Richtlinienumsetzung ausgelöst wurden. Ein Problemkomplex stellte die praktische Ermittlung des angemessenen Abstands dar. Intensiv diskutiert wurden zudem die Konsequenzen der Nichtkodifizierung der Mücksch-Judikatur. Angesichts der offen zutage getretenen Defizite der bloßen „Eins zu Eins“-Umsetzung einer Richtlinie, die als Rahmenrecht eigentlich auf Konkretisierung angewiesen ist, fand der Appell an den Gesetzgeber, in Zukunft sorgfältigere Normkonzepte zu entwickeln und so Rechtssicherheit zu gewährleisten, große Zustimmung.