Interview mit Dr. Nicole Hövelmeyer

Bundestagsvizepräsidentin Yvonne Magwas hat den Wissenschaftspreis des Deutschen Bundestags 2025 am 28. Januar 2025 an Dr. Nicole Hövelmeyer verliehen. Damit wird ihre Münsteraner Dissertation ausgezeichnet, die sie unter Betreuung von Prof. Dr. Gernot Sydow zum Thema „Brexit als vermeintliche Rückkehr zur constitutional orthodoxy. Selbstbindung des Westminster Parliament nach dem Austritt aus der Europäischen Union“ verfasst hat. Der Laudator Prof. Dr. Christian Waldhoff hat bei der Preisverleihung im Reichstagsgebäude die Arbeit mit den Worten gewürdigt, die neunköpfige Jury habe „die Argumentationstiefe und Darstellung einhellig als herausragend“ bewertet. Der Preis wird alle zwei Jahre für hervorragende Arbeiten zum Parlamentarismus vergeben. Für Nicole Hövelmeyer, die sich den Preis mit Dr. Felix Lücke (Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Universität Hannover) teilt, ist der Preis eine sehr erfreuliche Bestärkung ihrer Pläne für eine wissenschaftliche Laufbahn.

1. Könnten Sie Ihre Dissertation in wenigen Sätzen zusammenfassen? Was war die zentrale Fragestellung und das Hauptziel Ihrer Arbeit?

Die Auswirkungen des Brexits reichen bis in das Mark der britischen Verfassung und nähren unter anderem den Diskurs über eine normative Selbstbindung des Westminster Parliament, die als funktionales Äquivalent zum deutschen Verfassungsvorrang angesehen werden kann. Meine Dissertation bereitet diese bereits seit Jahrzehnten geführte Verfassungsdiskussion auf und zeigt, dass die festgestellte theoretische sowie praktische Öffnung für eine solche Selbstbindung nicht zwingend durch den Brexit rückgängig gemacht wurde.

Die Arbeit soll Klarheit darüber schaffen, welche Rolle die Selbstbindung in Zukunft spielen wird, welche Veränderungen die europäische (Des-)Integration also für die Handlungsmöglichkeiten des britischen Parlaments und der britischen Gerichte mit sich brachte. Zugleich soll mit der Betrachtung zentraler Instrumente und Rechtsinstitute der britischen Verfassungsordnung ein Beitrag zum grundsätzlichen Verständnis des Konzepts der Verfassung geleistet werden.

2. Was waren die wichtigsten Ergebnisse Ihrer Forschung? Gab es Überraschungen oder unerwartete Entdeckungen?

In der Diskussion über die Möglichkeit einer normativen Selbstbindung des britischen Parlaments stehen sich constitutional orthodoxy und new view gegenüber. Nach letzterer Ansicht soll sich das Parlament durch eine neue Lesart der Parlamentssuprematie zum Beispiel an (gerichtlich durchsetzbare) prozedurale Vorgaben wie eine qualifizierte Mehrheit oder das vorherige Abhalten eines Referendums binden können, ohne die eigene legislative Suprematie einzubüßen. Zur Untermauerung wurden der European Communities Act 1972 sowie der European Union Act 2011 als Beispiele angeführt. Beide Gesetze verloren jedoch durch den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union ihren Anwendungsbereich und die new view damit ihre exemplarische Stütze.

Die Dissertation zeigt einerseits, dass die Beispiele trotz des Brexits im britischen Verfassungsrecht fortwirken. Andererseits erläutert sie, warum ein Wegfall konkreter Beispiele der new view nicht zwangsläufig eine Rückkehr zur constitutional orthodoxy bedeutet. Der angestellte Ausblick basiert hierbei zum einen auf einer Betrachtung der britischen Gesetzgebung im Zusammenhang mit dem Brexit sowie einer Analyse relevanter Rechtsprechung der vergangenen 50 Jahre, zum anderen auf einem Rechtsvergleich mit dem neuseeländischen Parlament. Auf dieser Grundlage wird gezeigt, welche Argumente im Zusammenhang mit der normativen Selbstbindung auch nach dem Brexit noch schlüssig sind.

In diesem Zusammenhang gab es zwar keine Überraschungen oder unerwartetenden Entdeckungen. Mir zuvor unbekannt war aber zum Beispiel, dass das neuseeländische Wahlsystem an das des Deutschen Bundestages angelehnt ist.

3. Der Preis für Ihre Dissertation ist eine große Auszeichnung. Inwiefern hat dieser Preis Ihre Karriereplanung bestärkt oder Ihnen neue Perspektiven eröffnet?

Der Preis stellt für mich eine große Ehre dar und bestärkt mich – auch mit Blick auf die Liste der bisherigen Preisträger*innen – in meiner Entscheidung, eine wissenschaftliche Laufbahn zu verfolgen.

4. Was sind Ihre langfristigen Karriereziele? Sehen Sie sich in einer akademischen Laufbahn?

Nach dem Referendariat möchte ich mit einer Habilitation den nächsten Schritt in Richtung Professur gehen. Thematisch habe ich mich hierfür noch nicht festgelegt. Gut vorstellen könnte ich mir ein verwaltungsrechtliches Thema mit unionsrechtlichen Bezügen. Inhaltlich interessieren mich insbesondere Fragestellungen aus den Bereichen Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit; methodisch möchte ich künftig weiterhin (auch) rechtsvergleichend arbeiten. Vor allem das britische öffentliche Recht fasziniert mich nach wie vor sehr und wird mich daher sicherlich auch auf meinem weiteren akademischen Weg begleiten.

5.            Sie wurden hier an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster promoviert – wie war Ihre Zeit dort? Gab es besondere Erfahrungen oder Erlebnisse, die Sie während Ihrer Promotion geprägt haben? Können Sie sich vorstellen wieder an die Fakultät und nach Münster zurückzukehren?

Auf meine Promotionszeit schaue ich – trotz Covid-19 – sehr gerne zurück. Eine Rückkehr an die Fakultät kann ich mir daher sehr gut vorstellen. Besonders in Erinnerung geblieben sind mir Momente wie die Themenfindung, die gewinnbringenden Diskussionen im Doktorand*innenseminar oder meine Disputation. Mit Freude denke ich aber auch an die „kleinen“ Dinge wie die morgentlichen Kaffeepausen bei den Hausmeistern, meine Sprechstunden im SIZ oder die unzähligen Stunden im RWS zurück. Eine besonders prägende Erfahrung war zudem mein Forschungsaufenthalt an der University of Liverpool. Der Diskurs mit den britischen Kolleg*innen, allen voran Prof. Dr. Michael Gordon, hat mir derart viel Freude bereitet, dass damals zum ersten Mal der Gedanke in mir aufkeimte, eine wissenschaftliche Karriere zu verfolgen.

6. Sie sind die Erste in Ihrer Familie, die studiert hat, und gehören mit Ihrer abgeschlossenen Promotion zu den gerade einmal 2 Prozent promovierter Arbeiter*innenkinder. Hat Ihre nichtakademische Herkunft Sie bei der Entscheidung für eine Promotion/akademische Laufbahn beeinflusst? Haben sich daraus besondere Herausforderungen oder Vorteile ergeben?

Meine soziale Herkunft spielte für meine Entscheidung zu studieren eine deutlich größere Rolle als später bei der Promotion. Das erfolgreiche Examen hat nicht nur mir, sondern auch meinen Eltern gezeigt, dass ein rechtswissenschaftliches Studium ohne akademische Wurzeln zu meistern ist – warum dann nicht auch eine Promotion? Auch wenn meine Familie auf meinem bisherigen Weg meine größte Stütze war, konnte ich nicht auf ihre eigenen Studien- und Promotionserfahrungen zurückgreifen. Das ließ sich aber gut durch einen Austausch mit Kommiliton*innen, Kolleg*innen und Mentor*innen kompensieren, den ich allen Erstakademiker*innen ans Herz legen würde. Ich bin immer offen mit meiner sozialen Herkunft umgegangen und dabei stets auf Anerkennung und Interesse gestoßen. Mit der Zeit habe ich gelernt, neben den offensichtlichen Herausforderungen, die sie mit sich bringt, Stärken wie Selbstständigkeit und Durchhaltevermögen zu betonen, die sie mir verleiht. Dass ich nach dem Referendariat wieder an die Universität zurückkehren möchte, erhält die Frage meiner Eltern, wann ich denn „endlich fertig werde“, zwar aufrecht. Aber ihr Rückhalt und das Vertrauen in meine Fähigkeiten gibt mir den Mut, nach Studium und Promotion erneut einen Schritt ins (für uns) Unbekannte zu wagen.

Weitere Informationen zu der Preisverleihung finden Sie in der Pressemitteilung auf unserer Website.