Das antike römische Recht der Kodizille - Letztwillige Verfügungen im Imperium Romanum

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Das antike römische Recht der Kodizille reagierte auf ein gesellschaftliches Verlangen nach mehr Flexibilität bei der Errichtung letztwilliger Verfügungen, trat dabei aber nicht anstelle des förmlichen römischen Testamentsrechts, sondern neben die alten Regelungen. Im Mittelpunkt der Tagung standen die sich aus diesem Nebeneinander ergebenen Fragen nach den Beweggründen, der praktischen Bedeutung sowie der Ausgestaltung der Kodizille. Im römischen Recht lässt sich unter einem Kodizill ein typischerweise auf Wachstäfelchen verkörpertes kurzes Schriftstück verstehen.

Peter Oestmann (Münster) leitete die Tagung ein und sprach über das Erbrecht der Frühen Neuzeit. Trotz Abweichungen zur römischen Zeit konnte er den Begriff der Kodizille häufig in frühneuzeitlichen Quellen wiederfinden, wie zum Beispiel in der Frankfurter Reformation, einer bedeutsamen Stadtrechtsaufzeichnung aus dem Jahr 1578. Zudem stimmte der Vortrag thematisch auf die Tagung ein, da sich viele der beschriebenen (häufig formalen) Anforderungen an letztwillige Anordnungen im Laufe der Tagung auch in den römischen Quellen in einer ähnlichen Weise wiederfinden ließen.

Grundfragen des Rechts der Kodizille

Am zweiten Tag begann die intensive Beschäftigung mit dem antiken römischen Recht, wobei die erste Sektion, geleitet von Jakub Urbanik (Warschau), zunächst zahlreiche Grundfragen klärte: Wie sind die Kodizille entstanden? Wie sind sie im Verhältnis zu den sonst so starren römischen Testamentsregeln einzuordnen? Wie wurde das Recht der Kodizille im Laufe der Kaiserzeit ausgebildet?

Nach einem anschaulichen einführenden Schauspiel aus dem consilium des Kaisers Augustus zeigte Martin Avenarius (Köln), dass die Kodizille nicht so spontan entstanden sind, wie es in der entsprechenden Stelle der Institutionen Justinians (2,25 pr.) scheint. Vielmehr handelte es sich auch hier um eine langsame, allmähliche Anerkennung, die eng mit den römischen Treuevorstellungen innerhalb des Familienverbundes sowie mit den Fideikommissen (formlose, zunächst nur sittlich verpflichtende Anordnungen) und dem Wunsch nach ihrer Durchsetzbarkeit, verknüpft war. An diese Entstehungsgeschichte knüpfte der Vortrag von David Johnston (Edinburgh) an, der anhand einzelner Fragmente aus der juristischen Literatur das Verhältnis von Testament und Kodizill betrachtete und dabei insbesondere auf den Willen des Erblassers (die voluntas testatoris) einging.

Im Anschluss an die theoretische und quellenkundliche Einführung  lenkte Lucia Colella (Neapel) den Blick auf die Kodizille in den dokumentarischen Quellen und steuerte dadurch eine praktische Perspektive bei. Sie analysierte drei uns überlieferte Kodizille und ging danach auf Kodizillarklauseln ein, die sich in einigen Testamenten finden lassen. Bei solchen Klauseln handelt es sich um Hinweise in einem Testament, dass der Inhalt des Testaments künftig durch Kodizille geändert oder erweitert werde. Auffällig war hier, dass trotz der Formerleichterungen, die Kodizille laut den juristischen Quellen mit sich bringen sollten, in der Praxis häufig ähnliche Formvorschriften wie im Testamentsrecht genau durch solche Kodizillarklauseln angeordnet wurden.

In den Vorträgen von Thomas Rüfner (Trier) und Éva Jakab (Budapest) folgte eine intensive Befassung mit den möglichen Inhalten von Kodizillen. Rüfner beschäftigte sich mit Gestaltungsmitteln zur Änderung eines Testaments durch ein Kodizill. Dabei thematisierte er insbesondere mögliche Einschränkungen des Testaments durch Kodizille, die Einfügung und Beseitigung einer Bedingung, sowie das Mittel der Vermächtnisentziehung (ademptio legati) zur Testamentsänderung. Er sah darin ein Beispiel für die Wiederbelebung archaischer rechtlicher Handlungsformen. Weiterhin zeigte Rüfner Lösungsansätze für Fälle auf, in denen Testamentsinhalt und Kodizille sich inhaltlich (möglicherweise) widersprachen. Jakab schloss daran an, indem auch sie anhand konkreter Formulierungen in Digestenfragmenten auf die Auslegung von Kodizillen und Testamenten einging. Sie thematisierte vor allem die Möglichkeit, ein Testament in ein Kodizill umzudeuten und umgekehrt. Hier wurden erneut die Entstehung sowie die allmähliche Konkretisierung des Kodizillrechts deutlich, indem der strenge Wortformalismus des römischen Testamentsrechts allmählich aufgelockert wurde.

Sebastian Lohsse (Münster) sprach zum Abschluss des Tages über sogenannte Intestatkodizille. Sie liegen dann vor, wenn der Erblasser entweder überhaupt kein Testament errichtet hatte oder ein errichtetes Testament unwirksam war. Der Vortrag nahm allein den ersten Fall in den Blick. Lohsse zeigte mittels einer exegetischen Analyse, dass die Regeln zum Umgang mit Fideikommissen unter einigen Modifikationen auch bei der Intestaterbfolge angewandt werden. Zur Überwindung des konstruktiven Problems, dass Kodizille in ihrer Wirksamkeit von einem Testament abhingen und nur einem zuvor Begünstigten eine Belastung aufgetragen werden darf, betrachten die klassischen Juristen es so, als habe der Erblasser den Nachlass willentlich im Wege der gesetzlichen Erbfolge hinterlassen.

Das Kodizill in seinen Einzelheiten

Am dritten Tag folgte die zweite Sektion „Das Kodizill in seinen Einzelheiten“, die Elsemieke Daalder (Münster) eröffnete. Sie beschäftigte sich mit dem Prinzip „codicillis hereditas neque dari neque adimi potest“ („durch Kodizille kann ein Erbe weder eingesetzt noch enterbt werden“) und ging damit einem der wesentlichen theoretischen Unterschiede zwischen Testament und Kodizill nach, das durch praktische Gestaltungen jedoch vielfach abgeschwächt wurde.

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Anschließend befasste sich Wolfram Buchwitz (Würzburg) mit der Frage nach dem maßgeblichen Zeitpunkt für die Gültigkeit eines Kodizills. Anhand vieler Beispiele aus den Schriften römischer Juristen ging er auf den Zeitpunkt der Testamentserrichtung, den der Kodizillerrichtung, den Todeszeitpunkt und den Zeitpunkt des Bedingungseintritts ein. Es zeigte sich dabei vor allem, dass ungeachtet rechtlicher Grundsätze wie dem Satz „codicilli pro parte testamenti habentur“ („Kodizille werden als Teil des Testaments betrachtet“), die römischen Juristen bezüglich des Zeitpunkts eher einzelfallorientiert und pragmatisch entschieden haben.

Thomas Finkenauer (Tübingen) und Hesi Siimets-Gross (Tartu) leiteten in ein neues Themengebiet über, in dem sie nach Freilassungen im Wege von Kodizillen fragten, sowie danach, ob der Grundsatz der Begünstigung der Freiheit (favor libertatis) hier anwendbar sei. Finkenauer begann mit der Beschäftigung mit wirksamen Kodizillen und machte dabei eine Differenzierung zwischen direkten und indirekten Freilassungen aus. Siimets-Gross ging auf Freilassungsanordnungen in gefälschten und daher unwirksamen Kodizillen ein. Anhand verschiedener Fragmente war zu sehen, dass der Grundsatz des favor libertatis sowohl in wirksamen als auch in unwirksamen Kodizillen zur Geltung kam; sogar dann, wenn der freigelassene Sklave selbst das Kodizill gefälscht hatte, auf dessen Grundlage er freigelassen worden war.

Die Anerkennung der Kodizille als Bestandteil des römischen Erbrechts erfolgte erst in der Kaiserzeit. Anhand eines Streites über die Gültigkeit des Kodizills des Iulius Tiro, der in einem Brief des Plinius (ep. 6,31) überliefert ist, berichtete Salvatore Marino (Neapel) über die Außen- und Selbstdarstellung von Trajans Justizpolitik, wobei er insbesondere auf die Bedeutung der Gerechtigkeit für die kaiserliche Entscheidungsfindung einging.

Valeria Di Nisio (Neapel) beschäftigte sich zum Schluss mit einer weiteren Verwendungsform der Kodizille, der Sicherstellung des Unterhalts durch alimenta. Neben den bereits geschilderten Freilassungen wurden in Kodizillen auch Unterhaltsleistungen angeordnet, wobei es dem Erblasser häufig um die Versorgung seiner Freigelassenen ging. Di Nisio untersuchte die Reichweite der jeweiligen Anordnung zur Versorgung mit Nahrung (cibaria), Kleidung (vestiaria) und der Nutzung von Wohnraum (habitatio).

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Das Schlusswort der Tagung hatte Gregor Albers (Linz), der die gesammelten Ergebnisse zusammenstellte. Er unterschied typologisch „Kraftquelle“ und „Aktstyp“ und konnte so festhalten, dass sich trotz Schwierigkeiten, wann der Aktstyp Testament und wann der Aktstyp Kodizill vorliegt, unterschiedliche Regelungsinhalte feststellen lassen. Zudem betonte er, dass im Testament bestätigte Kodizille sich nach dem Testamentsrecht richten, während nicht bestätigte Kodizille am Fideikommissrecht gemessen werden.

Durch den engen Zuschnitt des Themas sowie den romanistischen Hintergrund beinahe aller Teilnehmenden herrschte bereits ein breites Verständnis des römischen Erbrechts unter den Beteiligten. So ermöglichte die Tagung einen intensiven Austausch und war geprägt durch Diskussionen auf einem hohen Niveau. Die Teilnehmenden konnten tief in einzelne Probleme eindringen und es folgten viele konstruktive Vorschläge und Anregungen, insbesondere auch zu Einzelfragen, wie der Übersetzung einzelner Digestenfragmente. Dieser Austausch konnte sicherlich viel zu dem kommenden Tagungsband beitragen, der voraussichtlich im nächsten Jahr erscheinen wird.

Beiträge über die Tagung finden Sie auch auf der Seite des Käthe Hamburger Kollegs auf Deutsch sowie auf Englisch.